Ich möchte euch heute jemanden vorstellen, der uns zukünftig wahrscheinlich noch häufiger begegnen wird. Herrn Börner.

Herr Andreas Börner ist fast vierzig, etwas zu schwer für seine Größe, trägt eine Brille und hat nur noch sehr dünnes Haar. Er arbeitet in der Qualitätsstelle einer Firma für Strickwaren, war verheiraret und hat zwei Kinder. Claudia, 14 und Sohn Thomas, 18.

Direkt nach seiner Scheidung mit 35 ließ er sich ein Loch ins Ohr stechen. Seitdem trägt er einen kleinen Diamanten an seiner linken Kopfseite. An dem Tag, als er ihn als sichtbares Zeichen seines geänderten Lebens seinen Eltern vorstellen wollte, rief ihn seine Mutter an um ihm zu sagen, daß sie das Haus verkauft hätten.

Ihm fiel kein Grund ein, warum seine Eltern so etwas tun könnten. Dann sagte seine Mutter ihm, daß sie für die nächsten Jahre mit dem Fahrrad durch Südamerika fahren werden. Er schluckte. Nicht das sein Verhältnis zu den Eltern immer das beste gewesen wäre - aber plötzlich kam ihm die Idee mit dem Ohrstecker so dermaßen bescheuert vor, daß er am liebsten im Boden verschwunden wäre.

Aber Herr Börner ist, wie wir noch sehen werden, konsequent. Und deshalb beschloß er, ihn nicht herauszunehmen und ins Klo zu werfen. Er trug ihn weiterhin - auch wenn es ihm manchmal vorkam, als als wöge der winzige Stein fünf Kilogramm.

Doch sehen wir uns erstmal an, wie es zu Herrn Börners Scheidung kam.

Es war ein Abend im Oktober. Börner kam erst um sieben Uhr nach Hause. Es regnete. Eine Kaufhauskette hatte 60.000 Strumpfhosen mit einem versteckten Webfehler reklamiert. Anstatt um viertel vor Vier nach Hause zu gehen, mußte er der Geschäftsleitung drei Stunden lang erklären, wie es zu dieser Panne kommen konnte. Derselben Geschäftsleitung, der er schon vor Wochen vorgeworfen hatte, daß es irrsinnig sei, die Wartung der Strumpfstrickmaschine in eigener Verantwortung durchzuführen. Die Leute, die er kannte waren motiviert, aber mit der komplizierten Technik der Maschine völlig überfordert. Er hatte den ganzen Mist kommen sehen.

Börner schloß die Haustür auf und roch das Abendessen. Schnitzel? Irgendwas mit Fleisch jedenfalls. Er stellte seinen Regenschirm in eine alte bemalte Milchkanne, zog die Schuhe aus und trat in seine Pantoffeln. Seine Laune war gar nicht so schlecht. Schließlich hatte er diesen dämlichen Schlipsträgern im obersten Stockwerk gezeigt, wo der Frosch die Locken hat. Er hatte recht behalten. Auch wenn es der Firma eine Stange Geld kosten würde.

Nach dem Essen saß er mit seiner Frau auf dem Sofa und sie sahen sich den Viertel-nach-Acht-Film im Zweiten an. Seine Tochter ging ins Bett, der Sohn spielte an seinem Computer. Er mochte seine Kinder sehr, aber heute Abend war er froh, daß er sich nicht weiter mit ihnen beschäftigen musste. Börner wollte ein oder zwei Bier trinken und einfach nur fernsehen.

Es ging in dem Film um ein junges attraktives Paar, das mit einem kleinen Propellerflugzeug von Kanada nach Las Vegas fliegen wollte, um dort zu heiraten. Er flog die Maschine und seine Freundin saß neben ihm. Mit einem mal fiel der Motor aus und das Flugzeug stürzte irgendwo in den kanadischen Urwald. Zuerst war Börner noch abgelenkt, weil er über die Diskussion mit der Geschäftsführung nachdachte - dann aber fesselte der Film seine ganze Aufmerksamkeit.

Der Pilot trug seine verletzte Freundin fast 200 Kilometer weit durch den Wald. Teils auf Händen, teils auf dem Rücken. Bis sie eine Ranger-Station erreichten und von dort in ein Krankenhaus geflogen wurden. Eine Woche später traute sie ein Priester in der Hütte des Rangers, der ihnen das Leben rettete. Trotz ihrer Krücken war sie eine zauberhafte Braut und der Waldhüter ein würdiger Trauzeuge.

Börner hatte sogar vergessen, von seinem Bier zu trinken. Er sah zu seiner Frau herüber, die verstohlen ein Tränchen aus ihrem Augenwinkel wischte. Dann griff er sich Bierflasche und Glas, leerte es in einem Zug und trank auf ex den Rest der Flasche aus. Seine Frau sah ihn an und lächelte. Wortlos stand er auf, lächelte zurück und ging in die Küche. Dort trank er stehend vor dem Kühlschrank die zweite Flasche Bier leer. Die dritte sitzend am Küchentisch.

Seine Frau war nicht dick. Er dachte an den Film. Nein, sie war fett. Nach der Geburt der Tochter hatte es angefangen. Mittlerweile wog sie 141 Kilo. Es hatte ihn nie sonderlich gestört, weil sie seit dieser Zeit sowieso keinen Sex mehr hatten. Jetzt aber fraß es an ihm.

Seit Jahren machten sie Urlaub in einer Pension in der Lüneburger Heide. Sie waren nie im Ausland. Teils lag es am Geld und teils daran, daß ihnen beiden die Heide als Horizont weit genug war. Was aber wäre, wenn er mit seiner fetten Frau nun doch einmal im Ausland über dem Dschungel abstürzen würde? Er dachte mit Grauen an die Sache mit seinem Schwager. Der hatte im Parkhaus des Frankfurter Flughafens die Orientierung verloren und so seinen Abflug nach Lissabon verpaßt. Der bloße Gedanke daran ließ seine Hände feucht werden. Er leerte die Flasche in einem Zug. Nein, drei Zentner würde er niemals auch nur zwei Meter weit schleppen können. Börner machte es sich wirklich nicht einfach. Aber er entschied. Er brauchte eine leichtere Frau.

Ihm war bereits schwindelig, aber trotzdem stürzte er noch Flasche Nummer vier in sich hinein. Nachher im Badezimmer bereute er das. Seit zehn Jahren benutzte er Zahnseide nach dem Zähneputzen, aber heute abend traf er die Lücken nicht mehr. Seit zehn Jahren war er das erste mal betrunken. Sein rundliches Gesicht im Spiegel verschob und verdoppelte sich, je mehr er versuchte sich selbst in die Augen zu sehen.

Als er ins Bett ging, schlief seine Frau bereits. Dankbar legte Börner sich hin, zog die Decke über den Kopf und malte sich aus, wie es wäre, zusammen mit einer leichteren Frau über dem Rothaargebirge abzustürzen. Ein wohliger Schauer zog über seinen Rücken. Die Gegend um Bad Berleburg kannte er ganz gut, weil er da mehrmals Seminare besucht hatte. Mit einer fünfzig Kilo schweren Frau auf dem Rücken könnte er jederzeit bis zur nächsten Bundesstraße kommen und einen Wagen anhalten.

Lächelnd fiel Börner in einen tiefen Schlaf. In der Mittagspause des nächsten Tages reichte er die Scheidung ein.





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