Autopsie eines Gefühls



Es riecht nach Desinfektionsmittel. Der Y-Schnitt ist gemacht. So weit, so gut. Da liegt es vor mir. Auf dem kalten Stahltisch. Die große OP-Lampe leuchtet grell direkt in sein Innerstes. Dieser verdammte Geruch. Wozu desinfizieren die hier eigentlich?

Etwas angewidert klappe ich das Gefühl in der Mitte auseinander und starre abwechselnd auf die weißen Kacheln im Raum und das, was da vor mir liegt. Irgendwie kann ich mich nicht konzentrieren. Liegt wahrscheinlich an den ewigen Nachtschichten. Gott, was zum Teufel tu ich hier eigentlich? Es scheppert grauenhaft metallisch als ich Brustklemme und Pinzette auf den Stahltisch knalle. Eine rauchen.

Ich lehne mich an die kalte Kachelwand. Zum Glück bin ich allein hier unten. Niemand der mir reinredet. Kleine Wirbel des Zigarettenrauchs kräuseln sich durch den hellen Strahlenkegel der Lampe. Selbst von hier aus kann ich die Todesursache des Gefühls erkennen. Zunähen und weg damit. Warum noch drüber nachdenken. Bescheinigen wir das natürliche Ableben und machen heute früher Feierabend.

Nein. Im hohen Bogen fliegt die halbe Kippe in Richtung Gully. Ich will genau wissen, wie es passiert ist.

Vier Mißverständnisse finde ich auf Anhieb und lege sie in das erste Probenglas. Die alleine hätten ausgereicht um jedes Gefühl zu töten. Aber seltsamerweise schienen diese nicht den Tod verursacht zu haben. Ich hatte vorschnell geurteilt. Die Sache wird interessant. Anhand der Temperaturkurve stelle ich fest, daß nach dem Auftreten der Mißverständnisse ganz andere Faktoren zum Absterben geführt haben müssen. Nacheinander finde ich zwei oder drei schwache Momente, Inkonsequenz in jeder Hinsicht sowie eine Erklärungsnot. Hmm, alles ab in die Gläser, beschriften und nachdenken. Etwas fehlt.

Eine rauchen. Das mit den Mißverständnissen läßt mir keine Ruhe. Ein Mißverständnis kommt nicht von ungefähr - es beruht im wesentlichen auf unterschiedlichen Interpretationen einer Situation. Ja, wir kommen der Sache näher. Je unterschiedlicher die Sichtweise, je größer kann das Mißverständnis werden. Daher auch dieses große Erklärungsnotgeschwulst. Logisch. Was aber ist die wirkliche Ursache für das Mißverständnis?

Kaffee. Ich brauche unbedingt einen Kaffee. Das Gefühl auf dem Tisch ist merklich zusammengefallen; kein Wunder, denn die Hälfte seiner Bestandteile steckt in den sterilen Probengläsern. Auf dem Weg zum Automaten bleibe ich an der Stirnseite des Tisches stehen. Es ist schon spät, aber irgendetwas hält mich fest. Mit verschränkten Armen blicke ich auf das geteilte Gefühl und grüble. Was habe ich falsch gemacht? Es war noch so jung ...

Hoffnung. Nein! Meine rechte Hand klatscht gegen die Stirn. Das ist es. Ich muß nur nach Spuren von Hoffnung suchen. Interpretationen einer Situation werden im wesentlichen durch den Einfluß der Hoffnung geprägt. Natürlich. Der Kaffee kommt später. Schwester, Skalpell!

Sehr witzig. Worte wie Schritte hallen durch den leeren Saal. Das Skalpell finde ich nach langem Suchen in einem leeren Pizzakarton. Ich sehe auf die Uhr. Kurz vor Feierabend. Draußen wird es langsam hell. Das Grübeln hatte doch etwas länger gedauert. Sehen wir, ob es sich gelohnt hat.

Vorsichtig schneide ich tiefer in die verschiedenen Gewebeschichten. Mir ist plötzlich klar wonach ich suche. Angenommen ich würde Hoffnung finden, müßte sie in diesem Fall unausgewachsen sein. Nicht wirklich mit den übrigen Schichten verbunden. Sie würde vor mir liegen wie ein Hunderter, den man nach einer völlig beschissenen Woche eines morgens unter dem Straßenbahnsitz findet. Konzentriert nehme ich mir die Bereiche vor, aus denen ich zuvor die Mißverständnisse herausgeschnitten hatte.

Da bist du also, du kleiner Scheißer. Ich wußte es. Abgestützt auf die Ellenbogen habe ich ein kleines grünes, etwa erbsengroßes Stück Gewebe direkt vor meiner Nase. Hoffnung. Tatsächlich. Und ich Idiot hatte es übersehen. Vorsichtig löse ich es mit der Pinzette heraus und halte es in das helle Licht.

Es hatte keinerlei Verbindung zu den anderen Teilbereichen. Das war es also. Dieses kleine Stück Hoffnung war nicht gewachsen, es wurde extern eingebracht. Bedächtig lasse ich es in das letzte Probenglas fallen. Irgendwo in den Fluren höre ich die Frühschicht herankommen. Mir reichts für heute. Schnell schiebe ich das auseinandergerupfte Gefühl zurück in die Kühlung und gehe grußlos an der Frühschicht vorbei nach Hause. Spinner, sagt jemand. Aber nicht sehr laut.

Es ist totenstill in der Wohnung morgens um sieben. Ich hole mein Notebook aus dem Schlaf und gieße mir einen Whiskey ein. Es regnet in dem Draußen, in dem es weder hell noch dunkel ist. Die Tropfen an der Scheibe reflektieren das warme Licht der Schreibtischlampe. Nach dem zweiten Glas fange ich an zu tippen.

Das Gefühl starb nicht an einer natürlichen Todesursache, sondern es hat im Prinzip niemals gelebt. Es wurde über eine kurze Zeit von Wirt und Träger aufrechterhalten. Der Wirt stellte eine geringe Dosis Hoffnung, woraufhin das Gefühl im Träger an Gewicht und Intensität zunahm. Der Träger versuchte im weiteren das Gefühl im Kontext der Hoffnung zu absorbieren und in den natürlichen Gefühlsverlauf einzubinden.

Die verschiedenen isolierten Mißverständnisse, sowie ein großer Bereich von Erklärungen zeigen jedoch, daß der Träger das Gefühl nicht in dem Maße angenommen hat, wie es für ein normales Wachstum nötig gewesen wäre. Ursächlich hierfür ist, daß innerhalb des Trägers serotoninlastige biochemikalische Vorgänge ausgelöst wurden, die allerdings mit dem Verbrauch der zu kleinen und zu schnell eingebrachten Dosis Hoffnung sofort zum Erliegen kamen. Sowohl dem Wirt, als auch dem Träger kann keine Schuld zugesprochen werden; trotzdem sollten beide einer profunden Untersuchung zugeführt werden.

Ort, Datum, Unterschrift.

Das dritte Glas. Es regnet noch immer. Aber wenigstens habe ich meinen Bericht fertig.

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