Das Kind

 

Ostersonntag 2011 irgendwo im Bergischen Land. Ich fahre mit dem Rad durch eine wirklich kleine Ortschaft an der Wupper. Es ist warm, die Sonne scheint und die kleinen Fachwerkhäuser inmitten der grünenden Bäume bilden etwas, was man, ohne jeden Spielraum für Subjektivität, als Idylle bezeichnet. Es riecht nach Frühling, im Hintergrund höre ich den Fluss murmeln, der Himmel ist makellos blau. Es sieht nur leider nicht so aus, als ob hier irgend jemand einen neuen Mieter sucht.

Ich überlege, ob ich neidisch bin. Hier zu wohnen – gar nicht so übel. Der Weg zur Arbeit wäre etwas verfuselt, aber dafür Abends mit Blick auf die Wupper grillen zu können, würde einiges wieder rausreissen. In Gedanken überlege ich mir einen Text für eine Wohnungssuche in der Zeitung. Kochender Single sucht 70 Quadratmeter mit hungriger Mitbewohnerin. Oder so ähnlich.

Schnaufend fahre ich einen extrem steilen Anstieg am Ende des Dorfes hinauf und blicke in den Lauf einer Pistole. Der Lauf zeigt absolut ruhig direkt in mein Gesicht. Am anderen Ende sitzt ein Junge im Schneidersitz auf einem Stromkasten. Vielleicht 7 oder 8 Jahre alt. Ich muss im Abstand von 2 Metern an ihm vorbeifahren. Er zielt die ganze Zeit auf meinen Kopf. Er ist nur ein Rotzlöffel, die Pistole ist Spielzeug und trotzdem ist es ein extrem komisches Gefühl.

Als ich auf der Höhe des Kindes bin, drückt es den Abzug. Ich höre das Klacken des Hahns und das Kind macht ohne eine Miene zu verziehen „BAMM!“ Ich bin sauer. Da ich wegen der Steigung eh am Ende meiner Kräfte bin, steige ich vom Rad und sehe dem Jungen direkt in die Augen. Er blickt zurück. In seinem Gesicht rührt sich nichts. Wow, denke ich. Der kleine Kotzbrocken hat´s drauf.

„Hey“, rufe ich ihm zu, „vielleicht fragst du heute Abend mal deinen Vater, was ‚Verhaltensauffällig‘ bedeutet und warum ich dich das gefragt haben könnte!“ Der Kleine sieht mir weiter in die Augen. Ich überlege, ob er überhaupt ansatzweise verstanden haben könnte, was ich gerade gesagt habe.

„Mein Vater ist tot“, sagt er ohne jede Regung. Dann löst sich sein Blick von meinem. Er sieht in den Himmel. Ich auf den Boden. Scheiße, muß ich jetzt irgendwie Beileid heucheln?

Eine weibliche Stimme ruft den Namen eines Kindes. Das Kind auf dem Kasten blickt weiter der einzigen kleinen Wolke nach, die Richtung Sauerland zieht, spannt erneut den Hahn seines Spielzeugrevolvers, lässt ihn aber in seinem Schoß liegen. Eine Frau taucht auf. Etwa Anfang 30, weißes T-Shirt, kurzer Rock, Flip-Flops. Sie ist hübsch. Die Ähnlichkeit ihres Gesichts und dem des Kindes ist verblüffend. Mama Pistolero.

Leicht verunsichert sieht sie erst ihr Kind an, dann mich.  „Guten Tag“, sage ich lächelnd. Genau so sollte meine hungrige Mitbewohnerin aussehen. „Hallo“, sagt sie. „Hab´ ich irgendwas verpasst?“ „Nein, alles gut. Ihr Kind hat mich erschossen, obwohl ich unbewaffnet war. Aber da ich hier fremd bin, war das Recht wohl auf seiner Seite …“

Der Junge sieht noch immer der Wolke nach. Sie sieht mich eine Sekunde lang an, lacht und hebt das Kind vom Stromkasten. „Hey, da bist du ja. Komm jetzt, Cowboy, Papa grillt Chicken-Wings. LeckerLeckerLecker!“ Schwungvoll setzt sie den Cowboy auf den Boden. „Das mit der Pistole …“, sie verzieht ihr Gesicht, „… Kinder eben. Sie mögen sowas. Warum auch immer …“ Noch immer lachend wuschelt sie dem Kurzen durch die Haare und sieht mich an. Sie will was sagen –

„Sein Papa grillt?„, falle ich ihr in´s Wort und sehe, wie sich ihre Stirn runzelt, „Cowboy hat einen richtigen Vater?“ Statt einer Antwort zieht sie ihr Kind zu sich, legt ihm den Arm um die Schultern und ihr Lachen verwandelt sich endgültig in einen eisigen Blick. „Hören Sie, ich weiß nicht, was das jetzt soll, aber das das Kind einen Vater hat, sollte ich wohl am besten wissen, oder?“

„´Tschuldigung, aber Ihr Sohn hat gesagt, dass …“  „Sie gehen jetzt besser. Okay?“

Ich sehe jetzt in zwei feindselige Augenpaare und steige auf mein Rad. „Schönen Tag noch“, sage ich und trete in die Pedale. Weg hier.

Was für eine epische Abfuhr. Wenn der Klimawandel in etwa 10 Jahren hier alles überflutet, hat das Kind womöglich eine echte Knarre in der Hand. Warum also sollte ich ausgerechnet hier wohnen wollen?

Keine drei Meter gefahren, macht es hinter mir zeitgleich „Klack“ und „BAMM!“

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