Ich seh Gurken



In deiner Küche und im Badezimmer sieht es schlimmer aus als in Grosny, du säufst zuviel, du verknallst dich regelmäßig in die Freundinnen deiner Kumpels weil du keine anderen Frauen mehr zu Gesicht bekommst, seit 8 Monaten ist dein Kühlschrank kaputt, du fängst langsam an, "Gute Zeiten Schlechte Zeiten" zu mögen, kommst nicht über deine letzte Liebe weg, du gehst das erste mal direkt nach deinem Stressjob auf eine "After Work Party" und alle sind schon gegangen - irgendetwas stimmt ganz und gar nicht. Vor allem, wenn dich das alles nicht wirklich stört.

Sie schlagen dir die Seitenscheibe deines Autos ein und klauen das 1000 Mark teure Radio, du bist nicht versichert, der Typ in der Videothek packt anstatt des ausgesucht brutalen Gewaltfilms "Yentl" in die Hülle, dein Bier ist warm oder du hast vergessen, daß du keins mehr hast und du rechtfertigst dich gegenüber den braunen vertrockneten Resten deiner Zimmerpflanzen mit dem Argument, daß die Zeit eben immer schneller verfliegt je älter du wirst und stellst gleichzeitig fest, daß das die ersten laut gesprochenen Worte an diesem Wochenende waren - denk jetzt einfach an Seegurken.

An Seegurken und deine verheirateten Freunde. Wenn eine Seegurke seßhaft wird, stößt sie als letzte bewußte Handlung ihr Gehirn ab. Rein genetisch betrachtet, unterscheiden wir uns zu höchstens 8% von dieser Weichtiergattung und deshalb erklärt der direkte Vergleich so einiges. Das Gehirn frißt im wachen Zustand 20 bis 30% der im jeweiligen Organismus vorhandenen Energievorräte. Im Larvenstadium muß sich die Seegurke um Verteidigung, Nahrungs- und Partnersuche und ihren endgültigen Wohnort kümmern. In dem Moment, in dem sie Refugium und Lebenspartner gefunden hat, beschliesst sie alles richtig gemacht zu haben.

Wozu also noch ein Gehirn?

Fußball, Fressen und Ficken sind die Parallelen im männlichen Sapiensbereich und all das geht nach dem terminierenden Abwurf auch ohne neuronalen Beistand. Rasenmähen, Müll rausbringen und nett zu den Kindern sein, übernimmt Männchens Rückenmark nach weiblicher Konditionierung widerwillig. Autorennen und BMW-Motorräder oder Audi Cabrio toll zu finden bewältigt es erstaunlicherweise allein und ohne Einflußnahme seitens des Weibchens.

Apropos Weibchen. Ab einem gewissen Alter stört sie der Unterschied zwischen Gehirn oder Rückenmark nicht mehr. Dann sind sie etwa 32 und wollen kleine fertige seßhafte Seegurkenkinder von wem auch immer. Klappt das nicht, gehen sie Schuhe kaufen. Klappt es, vermissen sie genau das für die nächsten Jahre und lassen diesen Verlust am restlichen Rückenmark ihres Partners aus. Das Männchen reagiert darauf unsicher und sehnt sich, ohne es wirklich zu wissen, nach seinem Larvenstadium zurück.

Deshalb werden Männchen nach der Heirat dicker. Die eingesparten 20 bis 30% zerebraler Energie werden ausgleichend in Fett umgesetzt und bilden eine Art Panzer gegen die veränderten Umstände und seine schrecklichen Folgen. Und das genau ist es, was sein verbleibendes Rückenmark empfindet, wenn es spät in der Nacht durch das Geschrei eines ewig hungrigen Kindes aus einem schweißnassen Traum über Rekursivität gerissen wird.

Deine Küche sieht noch immer aus wie Grosny. Und du bist viel zu dünn. Und damit prinzipiell ein Abstoßungskandidat. Aber nur prinzipiell.

Der Lärm auf der Straße unter deinem Fenster stammt von irgendwelchen noch nicht seßhaften Seegurkenlarven, die dein Motorrad umgeworfen und angezündet haben. Wenn die wüssten ...



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